Montag, 17. Juni 2013

Erdogan führt Krieg gegen die Menschen der Türkei

Premier Erdogan im Krieg gegen die halbe Türkei

Aus dem ganzen Land rief Erdogan Unterstützer zusammen, um zu zeigen, dass mehr Türken für ihn sind, als gegen ihn. Kurz vorher hatte er die Proteste auf dem Taksim-Platz zerschlagen und verboten.

Eine Fischerboot-Parade zierte die blauen Wasser des Bosporus am Sonntag, alle geschmückt mit identischen Konterfeis des allseits geliebten Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Busse mit seinen Anhängern kamen aus dem ganzen Land, Fähren über den Bosporus wurden für sie organisiert, die öffentlichen Verkehrsmittel waren für sie kostenlos, Fahrzeuge mit AKP-Anhängern hatten Vorfahrt auf den Straßen Istanbuls.
Eine ganze Reihe von Erdogans Sprechern und Ministern hatten angekündigt, dass diese Veranstaltung – um 18 Uhr Ortszeit – ein "Triumph der Demokratie" sein werde, da nämlich werde man sehen, dass die überwältigende Mehrheit der Türken hinter ihm steht. Oder zumindest die 50 Prozent der Wähler, 42,7 Prozent der Wahlberechtigten, die bei den letzten Wahlen für ihn stimmten.
Auch jene, die seit mehr als zwei Wochen täglich in vielen Städten gegen ihn demonstrieren, wollten zeigen, wie viele sie sind. "Eine Million" Menschen sollten zum Taksim-Platz kommen, so wie dies bereits am 1. Juni geschehen war.
Das hätte natürlich schlecht ausgesehen, und so ließ Erdogan ohne Vorwarnung am Samstagabend den Taksim-Platz und den seit zwei Wochen besetzten Gezi-Park mit außerordentlicher Polizei-Gewalt räumen. Jeden Tag seit dem 1. Juni waren dort Zehntausende zusammengekommen, an Wochenenden sogar Hunderttausende – und hatten in Volksfeststimmung ein Gefühl von Freiheit genossen, das vielen von ihnen als etwas ganz Neues, Elektrisierendes erschien.

Straßenschlacht in weiten Teilen Istanbuls

Die Polizeiaktion in der Nacht wurde zu einer Straßenschlacht in weiten Teilen Istanbuls. Auch die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth wurde in Mitleidenschaft gezogen: Gegen das Divan-Hotel, das wie drei andere Luxushotels seine Türen für Demonstranten und vor allem Verwundete geöffnet hatte, setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein, brach am Ende sogar durch die geschlossenen Türen.
In dieser Nacht geschah viel, was keine Werbung für die "moderne, demokratische" Türkei war – paramilitärische Einheiten wurden eingesetzt, EU-Minister Egemen Bagis, so hieß es in den Medien, habe erklärt, dass "jeder, der in dieser Nacht den Taksim-Platz betritt, als Terrorist behandelt wird".
Dutzende von Demonstranten wurden verhaftet, aber nach Angaben von Anwälten konnte nur für 13 von ihnen festgestellt werden, wo sie gefangen gehalten wurden. Mindestens ein Arzt und ein Medizinstudent wurden verhaftet, die Demonstranten geholfen hatten, und Gouverneur Avni Mutlu rief Mediziner auf, bitte keinen verletzten Demonstranten zu helfen.
Allein das "Deutsche Krankenhaus", das nur so heißt, aber nicht deutsch ist, behandelte rund 40 Verletzte, bis gegen 3.30 Uhr Ortszeit ein Wasserwerfer das Krankenhaus besprühte und Polizei Zugang erzwang.

Schon im Ansatz Tränengas eingesetzt

Bis nach 8 Uhr morgens dauerten die Auseinandersetzungen an. Danach war der Taksim-Platz geräumt, abgesperrt und für niemanden außer für Ordnungskräfte zugänglich. Auch nicht für Frau Roth, die versuchte, sich als Bundestagsabgeordnete Zugang zu verschaffen.
Ab 15 Uhr wollten die Demonstranten erneut von drei Richtungen auf den Taksim-Platz marschieren. Aber an diesem Tag wollten die Behörden um jeden Preis verhindern, dass sich Menschenmengen bilden. Schon im Ansatz wurde gegen kleinste Gruppen Tränengas eingesetzt.
Gouverneur Avni Mutlu warnte, dass "Demonstranten tödliche Waffen eingesetzt" hätten, und dass sich die Bevölkerung von den Protesten fernhalten sollte. Für die Behauptung gab es keinen Beweis, aber es klang nach einer Drohung: Dass die Sicherheitskräfte auch noch brutaler werden und notfalls scharfe Munition einsetzen könnten. Mutlu empfahl, möglichst gar nicht auf die Straßen zu gehen.
Das kam einer "empfohlenen" Ausgangssperre gleich, zumindest in den Stadtteilen, wo Proteste gegen Erdogan zu erwarten waren. Aber dort, wo seine große Parteiveranstaltung geplant war, im vorwiegend von AKP-Anhängern bewohnten Stadtteil Zeytinburnu, da war es eher das Gegenteil – hier rief die Regierung die Menschen auf die Straßen.

Auch in anderen Städten

Bis 16 Uhr Ortszeit war die Rechnung weitgehend aufgegangen. Es war nicht der Tag der eine "Million" Demonstranten, sondern ein Tag, an dem vor allem die hartgesottensten Aktivisten von Splittergruppen, etwa der kommunistischen Halk Evi, mit professioneller Ausrüstung Katz und Maus spielten mit der Polizei. Schon gegen 14.30 Uhr formieren sie sich. "Wir werden in Taksim kämpfen", sagt einer, die Augen strahlen fast, er freut sich, dass die Regierung in Bedrängnis ist wegen – nun, letztendlich auch wegen Leuten wie ihm.
Während in Istanbul weitflächig kleinere Gruppen – aber gegen 17 Uhr doch insgesamt Tausende – von der Polizei herumgejagt wurden, kam es auch in anderen Städten zu Polizeieinsätzen gegen Demonstranten, insbesondere in Ankara.
Dort sind seit Beginn der Protestbewegung fast so viele Menschen verletzt worden wie in Istanbul, es wurde aber bislang sehr viel weniger darüber berichtet. Insgesamt wurden bei den Auseinandersetzungen im ganzen Land – ohne die Aktionen von Sonntag – nach Angaben der türkischen Ärztevereinigung mehr als 7000 Menschen verletzt.

"Das ist Krieg gegen die Menschen"

Kaum ein Wort internationaler Kritik war am Sonntag zu hören gegen Erdogans Vorgehen. Und so hatte Frau Roth, weil sie zufällig vor Ort war, die Bühne für sich ganz allein. "Das ist Krieg, Krieg gegen die Menschen in der Türkei. Die Menschen im Gezi-Park, das sind auch die Menschen der Türkei", sagte sie.
Lange Zeit waren die Grünen insgesamt, und ihre beiden Vorsitzenden Cem Özdemir und Claudia Roth sehr zurückhaltend mit Kritik gegenüber der Regierung von Ministerpräsident Erdogan. Jetzt aber hat er sich aus diesen beiden, besonders aber aus Frau Roth nach ihrer tränenreichen Nacht, entschlossene Gegner gemacht. Das Vorgehen gegen Ärzte und Eindringen in Krankenhäuser nannte sie "ein Kriegsverbrechen".
"Alle deutschen Partnerstädte türkischer Gemeinden sollten protestieren", meinte Frau Roth. "Sie sollten Delegationen entsenden in die Partnergemeinden, Solidarität und Präsenz zeigen, nicht immer nur Friede-Freude-Eierkuchen." Der jüdisch türkische Schriftsteller Mario Levi sitzt nickend neben ihr, es ist Sonntag morgen in einem Café im Stadtteil Cihangir, nachher wird Frau Roth dort eine Pressekonferenz geben.

"Da sind ja auch viele Türken Mitglied"

Punkt für Punkt gehen sie die Möglichkeiten durch. Proteste der Schriftsteller? "Wissen Sie", sagt Mario Levi, "wir alle vom Vorstand des Pen-Club sind bereits angeklagt, weil wir den Pianisten Fazil Say mit einer Presserklärung unterstützten".
Say war vor einigen Monaten wegen Blasphemie verurteilt worden. Zugegeben, in der Presseerklärung war vom "faschistischen türkischen Staat" die Rede gewesen, was vielleicht etwas starker Tobak ist, wenn es doch eine gewählte Regierung gibt.
Und weiter geht es – die Schauspieler, die Gewerkschaften, "wir können sicher den Deutschen Gewerkschaftsbund dazu bewegen, Stellung zu beziehen", sagt Frau Roth. "Da sind ja auch viele Türken Mitglied."
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